Nachdem das Aufnahmelager für Geflüchtete – Moria auf Lesbos – im September 2020 abgebrannt war, entschied die EU, dass sich etwas ändern müsse. Sie gab Griechenland 276 Millionen Euro, um auf den griechischen Inseln Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos neue Aufnahmelager zu bauen. Das Design sollte EU-Standards entsprechen. Das Projekt sollte, so hieß es weiter, durch die EU mit einer neu gegründeten Taskforce für Migrationsmanagement überwacht werden. Als erstes wurde Mitte September das Lager auf Samos eröffnet.

Wie das in der Realität aussieht, zeigt diese Recherche. Seit Anfang dieses Jahres begleiten die vier Journalistinnen Katy Fallon, Elisa Perrigueur, Franziska Grillmeier und Vera Deleja-Hotko den Bau der neuen Lager für unter anderem das ZDF Magazin Royale, Ippen Investigativ und FragDenStaat.

Die Strukturen dieser Lager entwickeln sich zunehmend zu Orten, zu denen Journalist:innen, Menschenrechtsbeobachter:innen und Anwält:innen nur mit Genehmigung und unter Begleitung von griechischen Behörden Zutritt erhalten.

Die Recherche zeigt: Die EU finanziert nicht nur Lager, die Gefängnissen ähneln, sie macht diese auch zu einem Pilotprojekt für die Aufnahme von Asylsuchenden. Und das, obwohl selbst die EU-Menschenrechtsagentur (FRA) davor warnte, dass Stacheldrähte, Überwachung und Freiheitseinschränkungen Menschen, die Gewalt und Verfolgung erfahren haben, retraumatisieren kann.


Was will die EU von Griechenland?

Als die Türkei Ende Februar 2020 die Grenzen für Flüchtende öffnete, bezeichnete die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland bei einem Ortsbesuch als “Schutzschild” gegen Migration. Dieses “Schutzschild” werde die EU, so sagte von der Leyen, auch finanziell unterstützen.

Asyl zu beantragen ist jedoch ein Menschenrecht. So deklariert Artikel 14 der UN-Menschenrechtskonvention:

“Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.”

Nicht umsonst gibt es die Genfer Flüchtlingskonvention, die regelt, dass Menschen, die Schutz suchen, nicht in ein Land zurückgedrängt werden dürfen, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Sie feiert in diesem Jahr ihr 70-jähriges Jubiläum.

“Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.”


Wer ist für den Bau der Lager zuständig?

Die griechische Regierung ist für die Ausführung und die Planung aller Lager zuständig. Für die Konzeption hat die EU-Kommission eine eigene Taskforce für Migrationsmanagement eingerichtet, die die Einhaltung der “EU-Standards” kontrollieren soll. Gemeinsam mit Griechenland, mehreren EU-Agenturen (Frontex, EASO, FRA) und internationalen Organisationen (IOM, UNHCR) traf sich die Taskforce ab September 2020 monatlich um über den Plan zu sprechen.

Wir haben Protokolle, E-Mails und Berichte über das Informationsfreiheitsgesetz erhalten und ausgewertet. Darunter ein Bericht der EU-Menschenrechtsagentur (FRA) von Februar 2021.

Die Transparenz-Initiative FragDenStaat hatte die Dokumente über das Informationsfreiheitsgesetz angefragt. Dort könnt ihr alle Dokumente nachlesen und mehr zur Rolle Deutschlands erfahren: https://fragdenstaat.de/dasneuemoria/


Was steht in dem Bericht der EU-Menschenrechtsagentur?

1. “A centre intended for the first identification and registration of new arrival should not look like a prison. To avoid as much as possible the risk of re-traumatising effects for people who have experienced violence and persecution, barbed wire and prison-like fencing should not be used and ununiformed personnel deployed, where possible.”
Die Realität im Lager auf Samos, das als erstes eröffnet wurde: Drei Meter hohe Maschendrahtzäune, darauf NATO-Stacheldraht mit Widerhaken, Wachtürme sowie uniformiertes Sicherheitspersonal das 24 Stunden am Tag inner- und außerhalb des Lagers patrouilliert.

2. “The center and the services offered should be planned to allow asylum applicants to move freely inside the camp and to come and go (if necessary facilitated through public transport)”
Die Realität: Das Lager kann mit einer Chipkarte in der Zeit von 08:00 bis 20:00 Uhr verlassen werden. Jedoch nicht immer. Menschen berichten uns, dass ihnen oft der Weg versperrt werde. Es gäbe zwar einen Bus, doch ist dieser im Vergleich zur monatlichen Unterstützungszahlung sehr kostspielig. Genau: 1,60 Euro pro Fahrt in die nächste Stadt. Die Menschen bekommen jedoch nur 75 Euro pro Monat.

3. “The centre’s infrastructure and its services should be to the best interests of the child and children’s rights. (...) Children should not be exposed to prison-like fencing and should not witness violence.”
Die Realität: Spitze Zacken auf dem Maschendraht, der auch um den Spielplatz gespannt ist.


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Es kommen verschiedenste Überwachungstechnologien zum Einsatz. Welche genau?

Kameras übertragen live in die Kommandozentrale der Lager, aber auch in einen dafür eigens eingerichteten Überwachungsraum im griechischen Migrationsministerium. Aus der Kommandozentrale lässt sich bis in die Betten der Menschen sehen Die Kameras sind teilweise mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, die Bewegungen analysiert und Alarm schlägt, wenn sich Menschen beispielsweise in einer Gruppe versammeln. Ebenso werden Gesichter gescannt. Es gibt Wärmebildkameras und auch Drohnen kommen zum Einsatz.

Νότης Μηταράκης - Notis Mitarachi auf Twitter Νότης Μηταράκης - Notis Mitarachi auf Twitter


Das Überwachungssystem heißt “Centaur” und ist Teil der griechischen “Nationalen Migrationsstrategie 2020-21”. Es handelt sich dabei um ein “Sicherheitsmanagementsystem” zum “Schutz von Menschenleben und Eigentum” sowie für “Aufnahmestrukturen von Drittstaatsangehörigen”. Auch weitere Überwachungssysteme kommen zum Einsatz: Hyperion und RAE.

Finanziert werden diese von der EU – genauer durch die “Recovery and Resilience Facility”, ein Fonds, der ursprünglich dafür gedacht war, die Wirtschaft von EU-Mitgliedstaaten nach der Corona-Pandemie auf nachhaltigem und digitalem Wege wieder anzukurbeln. Diese Recherche zeigt: Die Kosten von etwa 37 Millionen Euro für die Überwachungssysteme sind Teil des Antrages, den Griechenland gestellt hatte. Der Antrag wurde bereits genehmigt. Eine erste Anzahlung ist bereits überwiesen.

Überwachungstechnologie in den Lagern:

112 Kameras für das Gelände
112 Lautsprecher
19 Röntgenscanner
55 Drehkreuze mit Chipkarten
20 Kameras mit Bewegungsanalyse
94 Kameras für Ein- und Ausgänge
7 Drohnen
Details der Überwachungstechnologie
Equipment/Structures Closed Controlled Structures of Islands Northern Greece Southern Greece Total
Perimeter Structure Protection Subsystem
Cameras 112 185 176 473
Loudspeakers 112 185 176 473
Radioscopic-Magnetic
X-RAY 19 16 23 58
Magnetic gates 55 20 44 119
Behavior analysis
Cameras 20 31 27 78
Entry-Exit
Cameras 94 160 174 428
Drones
Τype Α 7 7
Τype Β 16 16 32


Was machen Überwachung und Stacheldraht mit den Menschen?

”Die Eröffnung des neuen Lagers verändert die kollektive Identität der Geflüchteten, ihr Selbstwertgefühl und ihre Würde», sagt Eva Papaioannou, Psychologin bei Ärzte ohne Grenzen. “Europa bricht diese Menschen.”



Es gibt Gefängnisse im Gefängnis, worum geht es dabei?

Bei den sogenannten “Prokekas” handelt es sich um Abschiebegefängnisse. Sie befinden sich innerhalb der Lagerstrukturen. Von dort gibt es keine Möglichkeit, raus zu kommen. Menschen können dort 18 Monate eingesperrt werden, wenn sie einen negativen Asylbescheid erhalten haben und abgeschoben werden sollen.

Das Anti-Folter-Komitee (CPT) des Europarats hatte die Zustände in den griechischen Prokekas in den letzten Jahren mehrmals kritisiert. Die Haftbedingungen würden unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkommen.


ÜBERSICHT ZU DEN LAGERN

Neben dem Lager auf Samos sollen vier weitere entstehen. Ein Überblick über alle Lager: